Es gibt sie immer mal wieder, die Geschichten von längst vergessen geglaubten Objekten, die irgendwann, oft mehr oder weniger zufällig, aus dem Dornröschenschlaf geweckt werden und dann plötzlich wieder von sich reden machen. Die Lampe Gras ist eines dieser nützlichen Dinge, die für eine Zeit aus dem Bewusstsein verschwanden, weil sie von anderen Leuchten verdrängt wurde, bei denen dann oftmals auch die Ästhetik wichtiger war als die Funktion.
Ein ähnliches Schicksal ereilte die Midgard-Leuchten, die nur wenige Jahre vor der Lampe Gras entwickelt wurde. Und es gibt noch weitere Parallelen. Beide Leuchten wurden für Werkstätten konzipiert. Für Arbeiten an der Werkbank, um das Licht dahin zu bringen, wo es gebraucht wurde. Nämlich gerichtet auf das Werkstück, nicht die Arbeitenden. Die Lampe Gras ist effizient konstruiert, hochfunktional und dabei nicht überästhetisiert. Das gilt bis heute.
Die Lampe Gras ist eine Jahrhundert-Leuchte. Eine, die von den ganz Großen der Designgeschichte geschätzt und genutzt wurde. Die Entwicklung, die die Leuchte im 20. Jahrhundert durchmachte, ist nicht weniger interessant.
Das industrielle Abenteuer der Lampe Gras begann, das lässt sich ganz genau datieren, am 13. Oktober 1921. An diesem Tag meldete Bernard-Albin Gras ein Patent für eine Gelenkleuchte für den industriellen Einsatz an. Es gibt zu diesem Zeitpunkt erste Leuchten zur Lenkung des Lichtes auf dem Markt, die Lampe Gras aber setzt weder auf Balken oder einen Einzelnen Arm, sondern ein mehrarmiges, justierbares Gestell. Das Licht ist dadurch beweglicher und lässt sich flexibler lenken. Gleichzeitig muss sie, einmal richtig ausgerichtet, nicht ständig bewegt werden. Gerade in einer Werkstatt ist das von Nutzen.
Der Aufbau der Lampe Gras
Die Halterung der erstem Lampe Gras ist so revolutionär, weil sie am unteren Ende über eine Schraubzwinge verfügt, mit der sie sich auf einer Werkbank, einer Werkzeugmaschine oder einer anderen stabilen Unterlage befestigen lässt. Quasi immer und überall einsetzbar. Die restliche Konstruktion ist relativ simpel: Als Basis fungiert eine Bakelit-Kugel, die mit dem Träger ein Kugelgelenk bildet, das Bewegungen in alle Richtungen erlaubt. Der Arm ist über ein Gelenk an eine Verbindungsstange gekoppelt, an deren Ende ein beweglicher und ausrichtbarer Reflektor befestigt ist.
Die einzelnen Elemente sind nach einer Art Baukastenprinzip entwickelt, wodurch sich eine Vielzahl an Varianten der Leuchte zusammensetzen lässt. Das Alleinstellungsmerkmal ist aber die revolutionäre Mechanik am unteren Ende, denn dadurch lässt sich die Werkstattleuchte in so ziemlich jede Richtung drehen. Und natürlich das Schnörkellose, funktionale Design.
Besitzer, wechsel dich!
Schon kurz nach der Patentanmeldung beginnt das Wechselspiel der Besitzer und Hersteller. Als erstes tut sich der Erfinder Bernard-Albin Gras mit Maurice Bruneteau de Sainte Suzanne zusammen und bringt die Leuchte offiziell auf den Markt. Erstaunlich kurze Zeit späte schon ist aus der Werkstattleuchte eine Büroleuchte geworden, weil sich dank des einflussreichen Compagnons der Kundenkreis bis in den öffentlichen Dienst der französischen Hauptstadt erstreckt. Dort wird sie zur viel genutzten Schreibtischleuchte.
Schon 1922 aber verkauft Bruneteau de Sainte Suzanne seine Rechte an der Leuchte weiter an Louis-Didier-Theodore Peyrot de Gachons, einen Erfinder. Der hat sich mit der Entwicklung der Fotolithografie einen Namen gemacht. Er ist es auch, der der Lampe Gras ein wichtiges Update verpasst. Er verlegt das Stromkabel, das bisher außen entlang der Metallstäbe verlief, ins Innere der Stäbe. 1927 wird Jean Ravel Partner von Didier des Gachons, die Werkstätten, die bisher in Paris beheimatet waren, ziehen nach Clamart, eine Kleinstadt südlich der Hauptstadt. Die neue Fabrik erstreckt sich auf drei Etagen, hier kann das Sonnenlicht Tagsüber für gute Beleuchtung sorgen, während die Arbeiter die künstlichen Lichtquellen zusammenbauen.
An diesem Punkt zieht sich des Gachons aus dem Geschäft zurück und Ravel übernimmt komplett. Die Lampe Gras bekommt außerdem einen neuen Namen: Lampe R.A.V.E.L. „Réalisation d’appareils pour votre éclairage localisé“, zu Deutsch in etwa „Entwicklung von Apparaten zur lokalen Beleuchtung“. Ein langer Name für lenkbares Licht, kein Wunder also, dass sich die Abkürzung durchsetzte. Die Lampe Gras wird inzwischen vor allem an Werkbänken, in Büros und in der Industrie genutzt.
Viele Modelle der Lampe Gras, die man heute auf Auktionen findet, sind mit dem für die Zeit und den Kontext so typischen Hammerschlaglack überzogen. Das hat durchaus Charme, passt aber nicht unbedingt in jedes Büro. Bis 1970 läuft die Herstellung, dann stellt Jean Ravel sie ein, weil der Markt für Industrieleuchten schrumpft. Die neu entwickelten Werkzeugmaschinen der Zeit verfügen häufig über eine integrierte Beleuchtung, die Klemm- und Tischleuchten werden überflüssig. Auf Schreibtischen steht sie weiterhin, aber der Markt für Schreibtischleuchten ist heiß umkämpft.
Die Rechte an dem Design der Lampe Gras wechseln noch zwei weitere Male den Besitzer, bevor schließlich 2008 Philippe Cazer and Frédéric Winkler, die beiden Gründer von DCWéditions, die Leuchte neu auflegen. Bei DCWéditions werden seitdem sowohl die ursprünglichen Modelle gefertigt als auch Neuentwicklungen der ikonischen Leuchte produziert.
Monsieur Corbusier und die Leuchte
Ikonische Designobjekte haben nicht selten auch berühmte Fürsprecher. So waren einige der bekanntesten Architekten und Formgeber des 20. Jahrhunderts enthusiastische Nutzer der Lampe Gras. Zu diesem illustren Kreis zählen Eileen Gray, Michel Roux-Spitz, Robert Mallet-Stevens und insbesondere Le Corbusier. Le Corbusier gilt als der erste Architekt der Moderne, der sich für die Leuchte begeisterte und sie für seine Büros und seine verschiedenen Privathäuser nutzte. Der schweizerisch-französische Architekt hatte ein Faible für industrielle Objekte. Er schätzte ihre Schlichtheit und Einfachheit, erkannte in ihrer reinen Funktionalität einen Luxus, der den meisten dekorativen Objekten fehlt. Diese Affinität zum Stilreinen, Funktionalen findet sich auch in seiner Architektur wieder.
Die Lampe Gras heute
Die Wiederentdeckung der Lampe Gras begann in den 1980er Jahren. Zur gleichen Zeit wurden auch die Designs und Objekte von Jean Prouvé, Charlotte Perriand und Serge Mouille langsam populär. Das Comeback ist aber weder Kunsthistorikern oder Experten zu verdanken, sondern privaten Designenthusiasten, denen die Leuchte auf Flohmärkten oder Sperrmüllhaufen begegnete und die sie vor dem Wegwerfen bewahrten. Die steigende Popularität von Industriedesign und innovativen Leuchten aus dem 20. Jahrhundert taten ihr Übriges. Seit 2005 ist die Lampe Gras Teil der Sammlung der Designabteilung des Centre George Pompidou.
Seit 100 Jahren Jahren gibt es die Lampe Gras nun, 2008 gab sie den Startschuss zur Gründung von DCWèditions und seitdem erobert die klassische Leuchte sich auch den Wohnraum zurück. In ihrer schlichten Funktionalität steht sie heute für das, was Designer schon seit Jahrzehnten propagieren: Form follows function. Und nicht erst seit der Moderne, sondern schon mindestens seit 1921. Die Lampe Gras ist dafür der eindeutige Beweis. Sie hat sich ihren Platz im Interieur erobert und dort wird sie hoffentlich noch viele Jahrzehnte bleiben.
Alle Bilder via DCWéditions.
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