Thonet 214 – ein Stuhl zum Dampfablassen
Vier bis sechs Stunden im Dampfbad, der Druck steigt. Dann zischt es und der Dampf entweicht. Die Tür zum Kessel wird geöffnet und plötzlich muss alles ziemlich schnell gehen. Die schnurgeraden Holzstangen werden zwischen „Klemmen“ gespannt und entlang einer Formschablone von Hand gebogen. Knapp vier Minuten Zeit haben die Holzbieger bei Thonet dafür. Danach ist das Holz zu kalt, um verformt zu werden. So beginnt der Lebenszyklus eines jeden Thonet 214 – oder, wie ihn die meisten von uns kennen, des Wiener Kaffeehausstuhls. Dieser Prozess der Bugholzherstellung ist über 160 Jahre alt. Und fast genauso alt ist der Stuhlklassiker auch.
Thonet: 200 Jahre Tradition
Thonet startete 1819 als Einmannbetrieb. Bereits einige Jahre tüftelte der Tischlermeister Michael Thonet aus dem Rheinland-Pfälzischen Boppard an einer Methode, mit Dampf und Druck Holz biegsam zu machen, als er 1841 vom österreichischen Fürst Metternich nach Wien eingeladen wurde. Dieser hatte von seinen Experimenten mit gebogenem Holz gehört und von seinen Möbelentwürfen begeistert war. Ein Jahr später wanderte Michael Thonet mit seiner Familie nach Wien aus. Die Bugholztechnik hatte er da bereits patentieren lassen, jedoch gestaltete sich die Beantragung von Auslandspatenten schwierig.
Nichtsdestotrotz, das Bugholzverfahren markiert den Beginn des Erfolges von Thonet. Das Biegen des Holzes ermöglichte völlig neue Designs, die Thonet in alle Welt verkaufte. Der Stuhl Nr. 14, der heute unter der Modellnummer 214 rangiert, ist das bekannteste und meistfabrizierte. Der Thonet 214 wurde millionenfach gefertigt, unzählige Male nachgeahmt. Nicht nur in Wien wurden die Bugholzstühle von Thonet gefertigt. Das Unternehmen unterhielt Werke im heutigen Tschechien und Polen. 1889 erfolgte die Gründung der Fabrik in Frankenberg. Als nach Ende des zweiten Weltkriegs das Thonet-Imperium zerbrach, war es das Werk in Frankenberg, das die Produktion wieder aufnahm und bis heute weiter betreibt. Hier kommen bis heute alle neuen originalen Kaffeehausstühle her.
Thonet 214 im Kaffeehaus und am Küchentisch
Das innovative Herstellungsverfahren führte dazu, dass sich der Thonet 214 schnell zum Massenprodukt entwickelte. Der Stuhl lässt sich in sechs Einzelbestandteile zerlegen – Schrauben und Muttern nicht eingerechnet. Und nicht nur das, er wird von Anfang an zerlegt verschickt. Mit einem Preis von drei Gulden (das entspricht heute in etwa einem Preis zwischen 25 – 30 Euro) war er außerdem sehr erschwinglich. All diese Faktoren prädestinierten den Thonet 214 für die Wiener Kaffeehäuser. Denn dort brauchte man genau solch ein Sitzmöbel. In großen Stückzahlen herstellbar, kostengünstig und belastbar. Stabil und formschön war der Stuhl außerdem und Voila, hatte die Wiener Kaffeehauskultur einen neuen (heimlichen) Liebling. Bis 1930 wurden allein 50 Millionen Exemplare dieses einen Modells verkauft. Nicht nur ins Projektgeschäft, sondern auch an Privatleute. Der Wiener Kaffeehausstuhl ist vielleicht eines der ersten demokratischen Designs unter den Möbeln. Und das Jahrzehnte vor dem Aufkommen der Bauhausbewegung.
Eine überaus lebendige Ikone
Bis heute wird bei Thonet vieles in Handarbeit gefertigt. 8 Tage braucht es, bis ein Stuhl 214 fertig ist. Seine Vorteile sind nach wie vor: Eine elegante, schnörkellose Form, Zerlegbarkeit, die Reduzierung auf das Nötigste und die Stabilität des Stuhls. Denn was nützt einem der schönste Stuhl, wenn er ständig wackelt. Auch nach langem Gebrauch erfüllt der Thonet 214 weiterhin seine Funktion. Eventuell muss an der einen oder anderen Schraube nach ein paar Jahrzehnten mal nachgedreht werden. Aber das war es dann auch schon.
Das robuste Sitzmöbel stand im Weißen Haus in Washington, aber auch bei Lenin und, klar, auch in der Wiener Kaffeehauskultur war er omnipräsent. Das liegt insbesondere daran, dass sich der Thonet 214 durch seine innovative Herstellungsweise als erstes Möbel seriell herstellen ließ.
Die Entwicklung steht nie still
Der Kaffeehausstuhl wurde über die Jahrzehnte immer wieder überarbeitet und angepasst. Das Wiener Geflecht, dass dem Sitzmöbel seine nonchalante Eleganz verleiht, kann heute zum Beispiel auch mit Stützgewebe unterlegt werden. Dadurch übersteht die Sitzfläche auch häufige und stärkere Belastungen über lange Zeit. Klassisch hat der Kaffeehausstuhl einen offenen Rücken, es gibt ihn aber auch mit Rückenteil, so firmiert er allerdings unter der Modellnummer 215. Auch in Sachen Farbe geht der Thonet 214 mit der Zeit. Seit einiger Zeit gibt es den Stuhlklassiker nämlich auch in einer Two-Tone Variante mit zwei sich dezent unterscheidenden Farbtönen. Das unterstreicht die Dreidimensionalität der Stuhllehne. Thonet geht mit der Zeit, sowohl was die Klassiker betrifft als auch neue Designs. Massenware sind die Stühle und Möbel inzwischen nicht mehr, dafür haben die Stücke aber Sammlercharakter.
Übrigens: Von den Millionen verkauften Exemplaren des Thonet 214 aus den ersten 100 Jahren Unternehmensgeschichte sind nur noch einige Wenige erhalten. Die meisten sind heute Museumsstücke. Vielleicht, weil der „Stuhl der Stühle“ lange als Massenprodukt unterschätzt wurde. Oder weil es zu viele minderwertige Kopien gab. Ein original Thonet Stuhl ist an dem eingebrannten Marken-Signet und der Jahreszahl auf der Unterseite des Möbels erkennbar. Also falls jemand mal ein Exemplar auf dem Dachboden oder beim Trödler findet: Unbedingt behalten, das ist ein unschätzbarer Schatz.
Comment
[…] unsere Reihe Designlieblinge stellen wir regelmäßig Designs und Produkte vor, die einen ganz besonderen Platz in unserem […]