Ein Leben ohne Stühle, wie das aussieht, vermögen wir uns nur schwer vorzustellen. Dabei gehören sie noch gar nicht so lange zum Allerweltsmobiliar. Die ersten Hocker gab es wohl bereits in der Jungsteinzeit, vor etwa 10.000 Jahren. Die Geschichte des Stuhls beginnt vor etwa 5000 Jahren, als Herrscher:innen den Thron zum Symbol für ihre Macht auserkoren. Lange Königen und der herrschenden Klasse vorbehalten, zogen Stühle mit Sitzfläche und Rückenlehne im 16. Jahrhundert in die Häuser des Bürgertums. Lange war ein Stuhl ein handgefertigtes Einzelstück, Symbol von Wohlstand und Prestige.
Erfolg dank Verbiegens: Einblick in die Produktion von Thonet
Erst die Industrialisierung und die Entwicklung der Massenproduktion machte aus dem Stuhl einen bezahlbaren Gebrauchsgegenstand für die breite Masse. Untrennbar mit der seriellen Produktion von Stühlen ist die Firma Thonet verbunden, dessen Gründer Michael Thonet 1859 mit dem Caféhausstuhl Nr. 14 der Durchbruch in der industriellen Fertigung dank einer neuartigen Holzbiegetechnik gelang.
Der Erfolg beruhte dabei nicht nur auf der neuartigen Biegetechnik, sondern besonders auch auf dem Versand als Bausatz. Da die insgesamt nur sechs Holzteile des Stuhls nicht wie üblich verleimt, sondern verschraubt wurden, waren keine besonderen technischen Fähigkeiten erforderlich, um den Stuhl vor dem Verkauf in den Filialen zu montieren. Durch den zerlegten Versand reduzierte sich auch das Frachtvolumen drastisch. Allein bis 1930 wurden über 50 Millionen Stühle des heute im Werksverzeichnis als Modell 214 geführten Stuhls verkauft. Seitdem ist Thonet weltweit bekannt für seine Möbel aus gebogenem Holz und seit den 1930er Jahren auch aus Stahlrohr.
Wie aber sieht die Produktion von Thonet Klassikern aus? Und wie vereint das Unternehmen aus dem hessischen Frankenberg die industrielle Fertigung seiner Stuhlikonen mit dem Handwerk? Wir werfen exemplarisch einmal einen Blick auf den Entstehungsprozess einer Rückenlehne.
Von der Latte zur Lehne
Michael Thonet hat mit seiner Erfindung, Holz mittels Wasserdampf und Muskelkraft in eine Form zu bringen, den Grundstein für das moderne Möbel gelegt. In den 1830er-Jahren experimentierte er zunächst mit in Leim gekochten Furnierstreifen, bis ihm schließlich die Entwicklung der „Möbel aus massiv gebogenem Holz“ gelang. Inzwischen spricht man allgemein von Bugholz, wenn massiv gebogenes Holz in der Möbelherstellung eingesetzt wird.
Das Biegen von massivem Holz war seinerzeit revolutionär und hat bis heute nichts an Faszination verloren. Professionelle Holzbieger fertigen in der Produktion von Thonet in Frankenberg eine Vielzahl von Bugholzmöbeln. Für den Klassiker Thonet 210 R bedarf es beispielsweise insgesamt 147 einzelner Arbeitsschritte, bis der Stuhl fertig ist. Grob gesehen sind es sechs verschiedene Vorgänge in der Produktion von Thonet, die aus einer Holzlatte die Rückenlehne eines Designklassikers werden lassen.
1. Holzschnitt
Zunächst wird ein Kantholz aus Buche zu einem Stab gedrechselt. Dank der kurzen Holzfasern ist Buchenholz sehr stabil und eignet sich besonders gut für das Bugholzverfahren. Der Faserverlauf ist für den Biegevorgang von großer Bedeutung: Biegt man gegen die Faserstruktur, bricht das Holz.
2. Mit Volldampf unter Hochdruck
Bei mehr als 100 Grad Celsius werden die Hölzer gedämpft. Etwa sechs Stunden bleibt das Material unter Druck im Dampfkessel. Durch diesen Druck wird der Wasserdampf in das Holz gepresst, bis es schließlich gesättigt ist. Die hohe Temperatur macht den Buchenstab extrem elastisch – die wichtigste Voraussetzung für den anschließenden Biegevorgang.
3. Vorbereitung des Biegevorgangs
Der Holzstab wird nun von Fachkräften, den Holzbiegern, mittig in die Biegeform gelegt. Ein Metallband, das auf der äußeren Seite des Buchenstabes befestigt wird, verhindert, dass die Holzfasern im Außenradius gestreckt werden. Ohne diese Unterstützung würden sie reißen und das Holz brechen.
4. Vom Holzstab zur Rückenlehne
Nun geht es ans Biegen: Mit vollem Körpereinsatz drehen die Bieger die beiden Seiten des Stabes jeweils um 70 Grad nach innen. Um die leichte Außenwölbung der Hinterbeine zu erzeugen, werden die Endstücke des Stabs daraufhin ein wenig entgegen der Biegerichtung gezogen. Abschließend wird das Material in der Biegeform fixiert. Für die Rückenlehne des Stuhls 214, den berühmten Wiener Kaffeehausstuhl, müssen zwei Bieger Hand anlegen, für die Lehne des Stuhls 209 werden sogar vier Fachkräfte benötigt.
5. Trocknung
Damit nun die gebogene Lehne ihre neue Form behält, wird das Holz in seiner Biegeform für zwei Tage in einer Trockenkammer gelagert. Nach diesem Vorgang enthält das Holz nur noch einen sehr geringen Anteil an Feuchtigkeit und wird anschließend aus der Biegeform gelöst.
6. Der letzte Schliff
Nach diesem Fertigungsschritt wird die Rückenlehne weiterverarbeitet. Zunächst wird das Holz geschliffen, bis die Holzoberfläche samtweich ist, und anschließend mit den anderen Teilen zu einem fertigen Stuhl montiert. Zum Schluss wird das Holz gebeizt oder lackiert und erhält somit seine persönliche Note.
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