Traditionen pflegen und Geschichten erzählen, das können nicht viele Hersteller. Eine über 90 Jahre alte Marke erwerben und neubeleben, noch weniger. David Einsiedel und Joke Rasch haben genau das getan. Man könnte auch sagen, sie haben Midgard vor dem Vergessen gerettet. Mit viel Respekt für die Leuchten, ohne dabei in Ehrfurcht zu erstarren und mit klarem Blick in die Zukunft. Allein das ist schon ein eigenes SELECTED Thema wert. Jetzt bringen sie auch die erste Neuentwicklung der Traditionsmarke heraus. Die AYNO Leuchte wäre sicher ganz im Sinne des Erfinders und Firmengründers Curt Fischer gewesen. Aber erzählen wir die Geschichte von Beginn an.
Curt Fischer – Der Vater des lenkbaren Lichts
Im Südthüringischen Auma übernimmt Curt Fischer 1919 das örtliche Industriewerk. In der Fabrik werden Maschinen zur Herstellung von Industrieporzellan gebaut. In den Räumen wird oft bis spät in die Nacht gearbeitet, das harsche Licht aus den Deckenleuchten ist dabei die einzige Lichtquelle. Die Körper der Arbeitenden werfen dadurch dunkle Schatten auf Werkbank und Werkstück. Ein echtes Problem. Curt Fischer ist Ingenieur und beschließt, eine Lösung zu finden. Er entwickelt einen Scherenarm mit Leuchtenkopf zur Wandmontage und meldet das Konstrukt zum Patent an. Im November 1919 erhält er das weltweit erste Patent für lenkbares elektrisches Licht. Zunächst finden die lenkbaren Leuchten Verwendung in Fabrikations- und Werkstätten. Es folgen verschiedene Leuchtentypen, alle mit dem Fokus des justierbaren Lichtkegels, und die Gründung der Marke Midgard.
Midgard: Vom Bauhaus Liebling zum VEB
Der Innovationsgeist von Curt Fischer und Midgard begeistert einige prominente Zeitgenossen. Bauhaus Gründer und erster Direktor Walter Gropius schätzte die Leuchten, insbesondere die Typ 113 aka. die Peitschenleuchte so sehr, dass sie sowohl in seinem Weimarer Direktorenzimmer als auch in seinem Privathaushalt einen festen Platz hatten. Auch Marcel Breuer und László Moholy-Nagy besaßen ein Exemplar. Besonders zu Gropius pflegte Fischer engeren Kontakt. Über die Ateliers der Künstler bahnen sich die Midgard Leuchten ihren Weg in private Haushalte und Wohnungen. Als Curt Fischer 1956 stirbt, übernimmt sein Sohn Wolfgang die Firma. In der DDR wird das Unternehmen dann 1972 zum Volkseigenen Betrieb. Als VEB Industrieleuchtenbau Auma fertigt er weiterhin die Entwürfe seines Vaters.
Bemerkenswert ist es, dass Wolfgang Fischer die Weitsicht besaß, die Patente und Gebrauchsmuster des Seniors auch während der Zeit der DDR zu verlängern. Nach der Wende erfolgte die Rückübertragung des Betriebs an die Familie. Die vergangenen Jahrzehnte der Planwirtschaft und Ressourcenknappheit waren jedoch nicht spurlos an dem Unternehmen vorbeigegangen. Als Wolfgang Fischers Stieftöchter das Unternehmen 2002 übernehmen, haben sie zu kämpfen. Die Marke ist nunmehr jenseits der innerdeutschen Grenze nahezu vergessen. Die Fabrik in Auma verfällt langsam, die Mitarbeiterzahlen schwinden.
Das Licht wandert gen Hamburg
Irgendwann in den frühen 2000er Jahren macht David Einsiedel das erste Mal im Auma Halt. Schon seit Jahren waren dem Innenarchitekten die funktionalen, beweglichen Leuchten auf Flohmärkten begegnet, hatte er einige von ihnen restauriert und gesammelt. Spontan läuft er über den Werkhof, schaut sich um – und fährt dann wieder. Hier also, aus dem südöstlichen Zipfel Thüringens, stammen die Midgard Leuchten her, die er so schätzt. Es bleibt nicht der letzte Besuch in Auma. Als er 2011 erfährt, dass Midgard kurz vor dem Aus stünde, versucht er Investoren zu finden und das Fortbestehen der Firma zu sichern – vergeblich. Drei Jahre später dann übernimmt er gemeinsam mit Joke Rasch selbst die Marke.
Für einen Moment gibt es die Überlegung, das Werk in Auma weiter zu betreiben. Doch schnell wird klar, dass das keine besonders aussichtsreiche Idee ist. Mit dem Kauf von Midgard haben die beiden Hamburger Rasch und Einsiedel sowohl das Werkzeug, die Patente, die Markenrechte als auch ein umfassendes Archiv erstanden. Das ermöglicht es den beiden, die Marke in die Hansestadt umzusiedeln. 2017 bringen sie mit der wiederbelebten Marke Midgard die modularen Leuchten Typ 550 und Typ 551 als erstes wieder heraus – vollständig nach den Originalentwürfen von Curt Fischer und hergestellt mit den Originalwerkzeugen. Sie setzen die Geschichte an der Stelle beinahe nahtlos fort. Denn der modulare Lichtbaukasten, wie David Einsiedel das System nennt, ist ganz im Sinne des Erfinders.
Ohne Erfindergeist kein Midgard
Inzwischen zählen neben der Modular weitere lenkbare Leuchten aus dem Inventar von Midgard zum Programm. Die K831 Pendelleuchte ebenso wie die Federzugleuchte. Alles unter der Prämisse des lenkbaren Lichtes. Erfindergeist und Innovation sind tief verankert in der DNS Midgards und doch konzentrieren sich die neuen Eigentümer zunächst auf jahrzehntealte Designs und Konstruktionen. Sie tauchen tief ein in die Seele, lernen die Produkte zu verstehen, Qualitäten zu erkennen. Sie übernehmen Verantwortung für die Ideen und Prinzipien der Marke und ihres Gründers. So lässt es sich erklären, warum sie bis jetzt gewartet haben, ein neues Produkt zu lancieren. Es braucht Zeit, Einfühlungsvermögen und eine gewisse Sachlichkeit, eine Traditionsmarke mit Legendenstatus nachhaltig wiederzubeleben.
AYNO Anno 2020 – eine neue Ära beginnt
Im Januar 2020 wurde auf der Kölner IMM erstmals seit den 1950er Jahren eine neue Midgard Leuchte präsentiert. Für das erste neue Design unter dem Namen Midgard wurde Stefan Diez‘ Diez Office von David Einsiedel und Joke Rasch beauftragt. Vorgaben gab es keine und trotzdem fügt sich der Entwurf ganz logisch in die Reihe der klassischen Midgard Leuchten ein. Die filigrane AYNO Leuchte besteht aus nur drei Primärwerkstoffen: Fiberglas, Stahl und ABS/PC. Der Kunststoff ist ein Recyclingmaterial, welches Midgard von einem Zulieferer der Automobilindustrie bezieht. Was dort bei der Fertigung der Mittelkonsolen und Armaturenbretter als Abfall anfällt, wird für die AYNO Leuchte verwendet.
Sie ist nicht nur aus Recyclingmaterial gefertigt, sondern auch fast vollständig recycelbar. Zudem kann AYNO problemlos auch ganz ohne Werkzeug repariert werden. Die Ersatzteile sind bei Midgard bestellbar. Wenn man bedenkt, dass etwa 90 Prozent der heute produzierten LED Leuchten nicht für die Reparatur konzipiert sind, ist das ein erstaunlicher Fakt. Midgard setzt mit der AYNO die Tradition fort, dass Leuchten für Generationen nutzbar sein sollen. Neben dem Aspekt der Nachhaltigkeit, der der Leuchte schon jetzt eine Nominierung für den Deutschen Nachhaltigkeitspreis Design eingebracht hat, ist da noch die Tatsache, dass es sich hierbei um lenkbares Licht ohne Gelenk handelt.
Die AYNO, die es in drei Größen gibt – von der Tischleuchte bis zur raumgreifenden Stehleuchte – kommt ganz ohne aus. Der Schlüssel liegt in der Kombination von flexibler Fiberglasstange und verschiebbaren Verstellringen am gespannten Stromkabel. Diese machen ein Gelenk überflüssig. Dadurch fallen althergebrachte Bauteile wie Federzug und Gegengewicht ebenfalls weg. Die AYNO Kollektion ist technisch als auch in ihrer Formsprache eigenständig, ihre Funktionalität steht wie bei allen Midgard Leuchten an oberster Stelle.
Mit der AYNO beginnen die Hamburger ein neues, spannendes Kapitel in der Geschichte Midgards. Wir sind mehr als gespannt, was da noch so alles kommen mag. Im Video wird im Übrigen gezeigt, wie eine klassische Midgard-Leuchte (eine Modular) von Hand gefertigt wird. Da steckt neben einer ganzen Menge Arbeit auch sehr viel Sorgfalt drin. Solch eine Leuchte rangiert man so schnell nicht aus. Die bewahrt und pflegt man ein Leben lang. Auch das ist ja eine Form der Nachhaltigkeit – gemacht für Jahrzehnte, nicht nur eine handvoll Jahreszeiten.
2 Comments
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen
[…] des lenkbaren Lichts bis hin zur modernen Stehleuchte aus Recyclingmaterial kann in unserer Story über Midgard nachgelesen […]