Seit 90 Jahren gibt es den Stool 60 von Alvar Aalto, dem Großmeister des finnischen Designs. Mit einer minimalen Zahl an Bauteilen und seiner zeitlosen Eleganz schafft dieser kleine Hocker das, was kaum ein anderes Möbel ihm gleichzutun vermag: er dient keiner bestimmten Funktion, wandert leichtfüßig zwischen privaten Räumen und öffentlichen Orten und altert dabei immer mit Würde. Zum 90. Jubiläum stimmen wir darum eine überfällige Lobhudelei auf den Stool 60 von Artek an.
Ode an den Stool 60 von Alvar Aalto
Alvar Aalto begann seine Arbeit in den 1920er Jahren im Geiste des nordischen Klassizismus, aber in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts ging er dazu über, den Grundsätzen des Funktionalismus zu folgen. Während seine modernistischen Zeitgenossen mit gebogenem Stahlrohr experimentierten und eine maschinelle Ästhetik vorzogen, blieb Alvar Aalto bei der heimischen Birke als Material seiner Wahl. Er war der Meinung, dass der menschliche Körper besser mit natürlichen Materialien harmoniert und Möbel daher aus Holz gefertigt werden sollten. Der Stool 60 ist das beste Beispiel für seine Philosophie.
90 Jahre und keinen Tag gealtert
Entworfen wurde der Stool 60 1933 von Aalto für das Lungensanatorium im finnischen Paimio, für welches das Architekturbüro von Aino und Alvar Aalto die losen als auch die fest eingebauten Möbel entwarfen. Der Stool 60 fand in der Empfangshalle Verwendung, damals zunächst noch mit Beinen aus gebogenem Stahlrohr. Kurze Zeit später jedoch etablierten sich die gebogenen Holzbeine, deren Fertigungstechnik (eine Kombination aus Biege- und Laminierverfahren) erst kurz zuvor entwickelt worden war. Das ermöglichte eine Serienproduktion des Hockers und anderer Möbelstücke vom Aalto’schen Reißbrett.
Für diese L-Beine wurden Aalto und das von ihm gegründete Unternehmen Artek später besonders bekannt, auch weil der Architekt nicht nur in seinen Gebäudeentwürfen sondern auch in deinen Möbeldesigns häufig über die Lösung der Übergänge zwischen vertikalen und horizontalen Ebenen nachdachte. Im ersten echten “Massenproduktionsjahr” (1934) wurden die Sitze der Stool 60 Hocker auf unterschiedliche Weise bezogen oder gepolstert. Sie wurden in Birkenfurnier hergestellt und mit Stoff bezogen, sie waren mit oder ohne Polsterung erhältlich oder wurden je nach Wunsch des Kunden in verschiedenen Farben lackiert. Bereits 1934 wurden auch mit Linoleum veredelte Hocker hergestellt.
Die Sitzfläche des L-Bein-Hockers war immer rund und hatte fast ausnahmslos einen Durchmesser von 35 cm. Der Rand des Sitzes wird mit einer Holzleiste abgeschlossen, wenn der Bezug oder die Polsterung nicht aus Birkenfurnier besteht. Die Kante eines furnierten Sitzes verrät seine Konstruktion, und die Rahmenverbindungen bleiben als Dekoration stilvoll sichtbar. Der Stool 60 Hocker versteckt seine Konstruktion nicht, sondern zeigt transparent, wie schön Schlichtheit sein kann.
Ein Möbel, multi-purpose
Zweckmäßigkeit war eines der Mottos des Funktionalismus. Der L-förmige Hocker wurde gerade wegen seiner Funktionalität mit drei Beinen entworfen, denn diese Eigenschaft garantierte die Stapelbarkeit des Hockers. Auf dem Platz, den ein Hocker einnimmt, können so mehrere Dutzend Hocker übereinandergestapelt werden. Die Sitzfläche des Hockers ist rund und besteht aus Sperrholz, während die Beine aus gebogenem Birkenholz sind. Typisch ist außerdem, dass er auf drei Beinen anstatt auf vier steht. Dadurch kippelt der Stool 60 nicht. Einziges Manko: zum Draufsteigen taugt er deshalb nur bedingt, weil der Hocker so schneller umfallen kann.
Der Stool 60 ist nicht das bequemste Sitzmöbel, dafür aber umso vielseitiger. Und was muss der flexible Dreibeiner allein im privaten Kontext alles mitmachen: in der WG wird er immer dann hervorgeholt, wenn bei Partys in der Küche die Sitzplätze knapp werden. Im Wohnzimmer erfüllt er klaglos seinen Dienst als Blumenständer und zuvor stand er als Nachttisch neben dem Bett. Wo immer er auch zum Einsatz kommt, der ehrliche und genial konstruierte Hocker/Beistelltisch/Designklassiker fügt sich immer gut ein. Er ist kein auffälliges Möbel, kein Solitär, der viel Raum benötigt, um seine Wirkung zu entfalten. Stattdessen zeigt sich die Stärke des Stool 60 in der Summe des Raumes. Er füllt Lücken, die sich im Alltag zeigen. Er ist flexibel und unprätentiös.
Und er wird mit dem Alter schöner.Für die Möbel von Artek werden in der Regel 50 bis 80 Jahre alte Birken verarbeitet, die Zeit ihres Lebens Kohlendioxid absorbiert und gespeichert haben. Mindestens so lange sollen auch die Möbel des finnischen Herstellers halten. Im Laufe der letzten 90 Jahre hat sich weder das Material noch die Form des Stool 60 merklich verändert. Er ist sehr robust und geht nicht leicht kaputt. Ältere Exemplare zeigen natürlich Gebrauchsspuren, aber auch eine ganz eigene Patina. Man darf diesem Möbel sein Alter ansehen. So wird er mit fortschreitender Zeit erst so richtig schön.
Alles Gute! 90 Jahre Stool 60
Im Jahr 2023 gibt es den Stool 60 bereits seit 90 Jahren. Dieses Jubiläum ist ein Meilenstein für Artek, der im Unternehmen zu Reflektion und neuen Impulsen führt. So gibt es aus diesem Anlass gleich drei Sondereditionen – zwei wurden von internen Designteam entwickelt und eine entstand aus der Zusammenarbeit mit dem Designstudio Formafantasma. Letztere heißt Stool 60 Villi und rückt die Auswahl des Holzes in den Vordergrund.
Für die klassischen Artek Möbel wird vor allem Birkenholz ohne Astlöcher, dunkle Verfärbungen und Fraßspuren von Insekten gesetzt. Für die Jubiläumsedition entschied sich Formafantasma aber genau für diese Holzabschnitte, die sonst in der Holzselektion eliminiert werden. Mit diesem Material unterstreicht das Duo die ehrliche Schönheit und die kritische Erzählung des Waldes im Produkt. Ab 2024 wird Stool 60 Villi fester Bestandteil des Artek Sortiments sein.
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