Der Freischwinger ist als Stuhltyp längst etabliert, dabei ist das Modell, das archetypisch für den Stuhl ohne Beine steht, noch keine 100 Jahre alt. Der Thonet S 33 gilt gemeinhin als der erste Freischwinger unter den Stahlrohrmöbeln und als Revolution im Möbeldesign. Als Freischwinger Stühle bezeichnet man Sitzmöbel, bei denen Sitz und Gestell eine untrennbare Einheit bilden. Der Stuhl hat streng genommen keine Beine, dafür ist der Rahmen vorn zu einem Bügel gebogen. Das Gestell ist nach hinten gebogen, wodurch der Stuhl einen sicheren Stand erhält und leicht wippt. Dabei sitzt man Quasi freitragend in der Luft.
Thonet S 33 – der erste moderne Freischwinger
Die Modelle Thonet S 33 und S 34 von Mart Stam waren die ersten freischwingenden Stühle, die der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Sie waren mehr als nur sachlich gestaltete Einrichtungsgegenstände, sie gehörten zum revolutionären Gesamtkonzept einer neuen Architektur- und Lebensauffassung. Bereits 1924 entwickelte Stam den Prototyp eines Freischwingers für seine Frau, der aus geschweißten Gas- und Knierohren bestand. Weiterentwickelt und aus Stahlrohr gefertigt, sollte er drei Jahre später ganz offiziell das Licht der Welt erblicken.
Geburtststunde in der Weißenhofsiedlung
Mart Stam arbeitete 1927 an der Seite von Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe, Peter Behrens, Bruno Taut, Hans Poelzig und Walter Gropius an der bahnbrechenden Ausstellung Die Wohnung für die Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Zu diesem Projekt gehörte auch das Haus Nr. 28 in der Weißenhofsiedlung, welches er sowohl von außen als auch von innen gestaltete. Hier präsentierte er seine erste Serie von Freischwingern, die eine ganze Reihe gleichgesinnter Entwürfe auslösen sollten.
Stams B 33 und B 34 (beide 1926) bestanden aus gebogenem Stahlrohr, das in der Blütezeit der Moderne als das Material der Zukunft galt. Aus diesem entwickelte sich der Stuhl, den wir heute als Thonet S 33 kennen und lieben. Thonet brachte Stams Freischwinger-Entwürfe 1932 in Produktion wo sie bis heute als Thonet S 33 bzw. S 34 gefertigt werden. Diese Stühle revolutionierten die modernen Möbel, denn die robuste Beschaffenheit der Rohre ermöglichte minimalistische und dennoch langlebige Designs, wie wir sie bis heute zu schätzen wissen.
Streitfall Urheberrecht: Wer hat’s erfunden?
Der Stuhl S 33 (damals trug er noch die Modellnummer B 33) führte im Übrigen zu einer Urheberrechtsfehde zwischen Mart Stam und Marcel Breuer, dem wohl ersten Rechtsstreit über das Urheberrecht für die Form eines Möbelstücks überhaupt. Aber fangen wir am Anfang an. Dem Rechtsstreit geht in den 1920er Jahren in Dessau die Entwicklung der ersten Stahlrohrmöbel voraus. In diesem Prozess spielte Marcel Breuer ohne Frage eine große Rolle. In dem Wissen, dass dieses Genre kommerzielle Möglichkeiten barg, gründete Marcel Breuer Ende 1926/Anfang 1927 mit seinem Geschäftspartner Kálmán Lengyel das Unternehmen Standard Möbel in Berlin, das der erste Hersteller von Stahlrohrmöbeln war.
Stam präsentierte quasi parallel seinen ersten Freischwinger 1927 im Rahmen der Ausstellung in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart und seitdem gab es keinen Produzenten. Im Juli 1928 begann Marcel Breuers Zusammenarbeit mit Thonet. So verkauften Anfang 1929 Standard Möbel und Thonet Breuers Stahlrohrmöbel, wenn auch verschiedene Designs. Schließlich kaufte Thonet den kleinen, sich durchkämpfenden Berliner Hersteller Standard Möbel und sicherte sich so die Rechte an allen Stahlrohrdesigns von Breuer und hatte von da an eines der größten und vielseitigsten Sortimente an Stahlrohrmöbeln im Programm.
Kurz vor dem Verkauf von Standard Möbel an Thonet sicherte sich der scheidende Geschäftsführer Anton Lorenz auch die Rechte an allen Freischwingern von Mart Stam. 1929 brachte Thonet den B 33 und den B 34 Freischwinger (heute Thonet S 33 und S 34) von Marcel Breuer heraus, seine ersten Freischwinger und Arbeiten, die eine formale Ähnlichkeit mit Mart Stams Freischwinger aus der Ausstellung am Weißenhof aufwiesen. Und Anton Lorenz lancierte im gleichen Jahr den ST 12 und SS 34 heraus, die auf Mart Stams Freischwinger von 1927 basierten. Das verwirrende: Beim S 34 und ST 12 handelte es sich formal um den gleichen Stuhl.
Was folgte, war eine Urheberrechtsklage von Lorenz gegen Thonet bzw. Marcel Breuer. Der Rechtsstreit ging durch die Instanzen und wurde letztlich zugunsten Anton Lorenz bzw. Mart Stams am 1. Juni 1932 vom Reichsgericht in Leipzig entschieden wurde. Seither wird das künstlerische Urheberrecht Mart Stam zugeschrieben.
Über Mart Stam
Der bahnbrechende niederländische Architekt und Designer der Moderne Mart Stam war ein berühmter Vertreter der Neuen Sachlichkeit, einer deutschen Kunst- und Kulturbewegung, die sich für eine Rückkehr zur unsentimentalen Realität einsetzte. 1899 in Nordholland geboren als Martinus Adianus “Mart” Stam, erwarb er ein Diplom in Zeichnen an der Königlichen Schule für Höhere Studien in Amsterdam (1917-19). Nach seinem Abschluss zog er nach Rotterdam, um als Zeichner im Architekturbüro von Marinus Jan Granpré Molière (1883-1972) zu arbeiten, dessen Mentorat Stams Karriere ein Leben lang prägte.
Im Jahr 1922 erhielt Stam den Auftrag, ein städtebauliches Konzept für Den Haag zu entwerfen. Stams Entwürfe sahen unter anderem Straßen vor, die senkrecht zum Strand verliefen – ein neuartiges Konzept, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Noch im selben Jahr ging er nach Berlin und arbeitete bis 1923 in verschiedenen Architekturbüros, unter anderem in denen von Max Taut und Hans Poelzig. In Berlin lernte Stam avantgardistische Architekten und Künstler kennen, darunter den russischen Konstruktivisten El Lissitzky.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges blieb er in der gerade neu gegründeten DDR und wurde zunächst Direktor der Akademie der bildenden Kunst in Dresden, bevor Stam 1950 als Rektor der Hochschule für angewandte Kunst Berlin Weißensee nach Berlin wechselte. Gegen Ende 1952 verließ er die Hochschule als auch die DDR und kehrt 1955 zurück in die Niederlande, wo er freiberuflich als Gestalter bis zu seiner Pensionierung wirkte. 1966 sollte er noch ein letztes Mal umziehen, diesmal in die Schweiz, wo er bis zu seinem Tod 1986 lebte. Mart Stams Nachlass befindet sich im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main.
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