Strikkestolen – Warum Poul M. Volther den Jørna Sessel für FDB Møbler mit extra Ellenbogenfreiheit entwarf.
Wolle und Holz, das sind zwei Materialien, die untrennbar mit Skandinavien verbunden sind. Mit neuartigen Holzmöbeln haben die Entwerfer der Dänischen Moderne Designgeschichte geschrieben, und das Vlies der Schafe wird bereits seit der Wikingerzeit weiterverarbeitet zu Kleidung. Da ist es wenig verwunderlich, dass sich Möbel und Strickware auch konzeptuell einmal treffen würden. Im Jørna Sessel für FDB Møbler nämlich. Wieso, weshalb, warum – darum soll es diesmal gehen.
Eine sehr kurze Geschichte des Strickens
Stricken und Handarbeit erlebt seit ein paar Jahren ein kleines Comeback. Dieses Hobby der Großmütter war nie wirklich hip und auch jetzt ist es nicht so, als würden Stricknadeln eine exponentielle Nachfrage erleben, dennoch: Es stricken wieder mehr jüngere Menschen. Was bei uns noch relativ ungewöhnlich ist, hat in Skandinavien einen etwas anderen Stand. Hier ist es Alltag, Menschen mit Stricknadeln und Wollknäuel ausgestattet im Zug, im Café oder auch in der Videokonferenz zu sehen. Die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager, geboren und aufgewachsen in Dänemark, strickt bekanntermaßen während so mancher Konferenz, wenn sie als Zuhörerin vor Ort ist.
Und insbesondere in Skandinavien gibt es viele populäre Social Media Profile, die ihre zehntausenden Follower mit neuen Strickideen und den dazugehörigen Anleitungen versorgen. Stricken ist dort nämlich nicht nur was für betagte Damen.
Die Tradition des Strickens geht aber über Jahrhunderte zurück. Die Wikinger nutzen für die Fertigung ihrer Strümpfe eine Art Vorstufe des Strickens, das sogenannte Nadelbinden. Eine mühselige Handarbeit, bei der gesponnener Faden mit einer Nadel zu einem dichten Gewebe verbunden wird.
Das Stricken selbst entwickelte sich wohl im Mittelalter, wahrscheinlich an unterschiedlichen Orten auf der Welt parallel. Gestrickt wird mit zwei bis fünf Nadeln, das geht schneller und einfacher als die aufwändige Nadelbindung. Die erste bildliche Darstellung des Handstrickens ist auf dem Buxtehuder Altarbild der Muttergottes (um 1370) zu sehen. Und während das Stricken als Handwerk in Frankreich seine gewerblichen Anfänge nimmt und ausschließlich von Männer ausgeübt wurde, wird das Stricken im privaten zur Nebentätigkeit der Mädchen und Frauen.
Sie sind es auch, die die aufwendigen Strickmuster Skandinaviens entwickeln. Der Selbu-Stern ist eines der bekanntesten. Es ist der achtteilige Stern, der traditionelle norwegische Fäustlinge schmückt. Entwickelt hat ihn eine junge Hirtin aus dem Ort Selbu, Marit Emstad. Das Muster soll sie wie beiläufig beim Hüten der Schafe entwickelt haben. So einfach wird das aber dann doch nicht gewesen sein, denn so komplexe Motive wie der Norwegerstern, heute eines der bekanntesten Muster auf Winterpullovern und Logo des staatlichen Ölkonzern Statoil, sind nicht einfach zu stricken. Es braucht Disziplin, Abstraktionsvermögen und mathematisches Verständnis. Erfahrene Stricker_innen wissen: Stricken ist Mathematik.
Jørna Sessel aka. Strikkestolen
Und doch ist Stricken auch Entspannung. Weil sich die immer gleichen Abläufe wiederholen. Es ist ein praktischer Zeitvertreib, wenn man sich auf nichts anderes Konzentrieren muss. Wenn man wartet, beim Fernsehen, auf Zugreisen. Oder in den langen Nächten Skandinaviens, wenn es früh dunkel wird, man aber noch wach ist. Die einen Lesen, die anderen Stricken.
So wird es vielleicht auch beim Designer des Jørna Sessel für FDB Møbler gewesen, Poul M. Volther.Fürs Stricken braucht es eigentlich nicht viel. Wolle, ein paar Stricknadeln und Zeit. Ach, und Ellenbogenfreiheit, denn die für die Handarbeit so typischen Bewegungen sind Auf- und Ab- Bewegungen der Ellenbogen. Klassische Armlehnsessel, in denen man besonders gut lesen und dösen kann, geben das nur leider viel zu selten her. Arme Ablegen, das ist kein Problem, aber die Armbeugen bewegen, das kann zum Problem werden. Zu schnell stößt man da an die Sessellehnen.
Das Problem soll auch die Frau des dänischen Formgebers Poul M. Volther. Er war als Nachfolger von Børge Mogensen von 1950-55 Leiter der Abteilung für Möbel und damit Chefdesigner. Volther war bekannt für seine skandinavischen Interpretationen des Windsor Chairs, einfacher Holzstühle, deren Rückenlehnen aus Holzspindeln bestehen. Viele seiner Entwürfe sind noch heute in vielen dänischen Haushalten zu finden und FDB Møbler produzierte eine Vielzahl bis heute oder wieder.
Problem erkannt, Problem gebannt.
Den Jørna Sessel für FDB Møbler hat er für seine Frau designt, die wohl gerne strickte, das aber in ihrem Sessel nie richtig bequem fand, weil sie sich mit den Ellenbogen immer an den Armlehnen stieß. Also entwickelte Volther für sie den Jørna Sessel für FDB Møbler – gemacht für sie und benannt nach ihr. Entstanden ist ein einfacher, tiefer Holzsessel, mit Sitz und Rückenpolster, der schlicht und bequem ist, aber dennoch kein Sessel zum Fläzen ist. Er hat keine Armlehnen, stattdessen läuft die Rückenlehne sanft gekrümmt nach vorn auf Höhe der Sitzfläche aus.
Es gibt Ähnlichkeiten mit Hans J. Wegners berühmten Peacock Chair, dessen Rückenlehne ist aber weit ausladender und er verfügt über zwei Armlehnen. Der Jørna Sessel für FDB Møbler, oft auch Strikkestol (dt. Strickstuhl) genannt, verzichtet da aber eben absichtlich drauf.
Ein Möbel, speziell entworfen für ein Hobby, das Millionen Menschen teilen, und welches dabei sehr dänisch und sehr ästhetisch daherkommt, das ist Poul M. Volther mit dem Jørna Sessel für FDB Møbler gelungen. Man kann darin wunderbar deinen Handarbeiten nachgehen. Man muss es aber nicht. Auch ohne textiles Hobby ist der Jørna Sessel ein schönes, zeitloses Sitzmöbel, in dem man auch wunderbar Zeitunglesen, nachdenken, netflixen und dösen kann. Und davon können wir im Grunde nie genug haben.
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