S 32/ S 64 – Auf Tuchfühlung mit Cesca
Der Freischwinger ist eine ganz besondere Gattung von Stuhl: Ein Sitzmöbel ohne Hinterbeine, der beim Sitzen leicht nachgibt, sozusagen schwingt. Und er ist ein recht moderner Stuhl noch dazu, denn es gibt ihn so erst seit 1926, als der niederländische Architekt Mart Stam den Urtyp des Freischwingers entwarf. Das bekannteste Modell aber stammt von Marcel Breuer, der Stams Entwurf mit dem S 32 / S 64 für Thonet perfektionierte.
Der S 64 von Thonet ist eine Ikone der klassischen Moderne. Breuer, der am Weimarer Bauhaus erst eine Tischlerausbildung absolvierte und anschließend als „Jungmeister“ die Möbelwerkstatt leitete, hatte sich ende der 1920er Jahre innovativen, eher unbekannten Werkstoffen gewidmet und erste Prototypen aus Stahlrohr entwickelt. Der S 32 / S 64 ist von 1929/1930. Das Gestell basiert auf einem vorangegangenen Design von Mart Stam, weshalb bis heute nicht abschließend geklärt ist, von wem der Freischwinger entwickelt wurde. Neben Stam und Breuer experimentiert auch Ludwig Mies van der Rohe mit dem Konzept und stellte mit dem MR20 für die Weißenhofsiedlung in Stuttgart ein eigenes Modell vor.
Die Konstruktion
Beim klassischen Freischwinger spielt der Rahmen eine tragende Rolle: er besteht aus einem einzigen verchromten Stahlrohr. Ausschlaggebend ist die Schlittenform, deren „Vorderbeine“ knicken unten und oben nach hinten weg. Dadurch verläuft der untere Teil des Rahmens am Boden entlang wie Kufen weiter bis zum hinteren Rand des Möbels, oben spiegelt er quasi die Kufen und dient als Träger für die Sitzfläche. Dann knickt der Rahmen am hinteren Teil der Sitzfläche noch einmal nach oben ab, um an ihm die Rückenlehne zu befestigen. Beim S 64 V Freischwinger laufen sie nach vorn, damit hier die Armlehnen befestigt werden können.
Die Sitzfläche und Rückenlehne werden bei der Thonet Ikone S 32 / S 64 auf den Rahmen aufgelegt und festgeschraubt. Die sichtbaren Schraubköpfe sind dabei fester Teil des Designs von Marcel Breuer, der die Konstruktion in ihren Purismus bevorzugte, ganz ohne Schweißnähte. Er kaschierte das Zusammenfügen der Einzelteile nicht, sondern hebt es hervor.
Das auffälligste Nutzungsmerkmal eines Freischwingers ist das leichte, rückwärtige Absinken der Sitzfläche, sobald darauf Platz genommen wird. Der Stuhl schwingt dabei mit jeder Bewegung leicht mit, und dieses Mitschwingen ist typisch für jeden Freischwinger. Essenziell dabei ist die Stärke des Stahlrohrs. Bei Thonet wird hat das verwendete Metallrohr eine Stärke von 2 mm, wodurch genügend Material an den gebogen-gestreckten Bereichen des Rohres vorhanden ist, um Brüche durch Gebrauch zu verhindern. Gleichzeitig ist es „dünn“ genug, um bei der Nutzung und Bewegung leicht nachzugeben, ja zu schwingen. Stahlrohrstühle mit starrerem Gestell nennt man deshalb nicht Freischwinger, sonders Kragstuhl.
Für einen S 32 wird das Stahlrohr 8 Mal gebogen, bei der Variante mit Armlehnen, also Modell S 64, 10 Mal.
Der Unterschied macht den Klassiker
Der Klassiker S 64 unterscheidet sich von den ersten Modellen und Entwürfen Stams und Breuers insbesondere durch die Sitz- und Rückenfläche. Bei seinen ersten Entwürfen und Prototypen setzte Marcel Breuer nämlich auf eine Bespannung aus Eisengarn. Das ist ein dichtes, strapazierfähiges Baumwollgewebe, das typisch war für die Stahlrohrmöbel des Bauhaus. Stam wiederum verwendete bei seinem Design Sperrholz.
Marcel Breuers S 32 / S 64 aber verbindet das innovative Material der neuen Sachlichkeit mit den weltbekannten Kunstfertigkeiten des Traditionsunternehmens Thonet. Das verchromte Stahlrohr wird durch Bugholzrahmen aus Buche für Sitzfläche und Lehne ergänzt, die mit Wiener Rohrgeflecht bespannt sind. Dadurch wird das funktionale Nutzmöbel zu einem ästhetischen Chamäleon, dass sich im sachlichen wie auch klassischen Interieur einfügt. Ganz zu schweigen von den multi-facettierten Wohnwelten, die wir heute unser Zuhause nennen.
S 64: Ein Stuhl steht Modell
Dem Klassiker der „Icons of Thonet“-Riege hat die Akademie Ruhr in einer Seminarreihe eine Hommage für das Möbel zuteil werden lassen. Die Teilnehmenden haben den S 64 Stuhl für uns gezeichnet. Unser Urteil: Gar nicht so einfach, aber durchaus gelungen. Merci!
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